Viel Spaß
Ein kleiner Weihnachtskrimi

Der entwendete Wunschzettel

"Lieber Weihnachtsmann ich wünsche mir ein Playmobil Hochbett", steht auf einem Wunschzettel im Weihnachtspostamt im Hildesheimer Stadtteil Himmelsthür (Niedersachsen).
Ein Wunschzettel zu Weihnachten © picture alliance / dpa / Ole Spata
Von Wieland Freund  · 25.12.2016
Eigentlich war Schuldetektiv Schofel Olm schon auf den Weg in die Weihnachtsferien. Aber dann ist auf einmal Friederikes Wunschzettel verschwunden. Und vor dem Fenster im Schnee sind höchst merkwürdige Stiefelabdrücke. Was für ein sonderbarer Fall!
In all den Schuljahren, die ich an der Seite meines treuen Freundes Schofel Olms verbrachte und in den großen Pausen an dem verkratzten Tisch bei den Schließfächern saß und auf Kundschaft wartete, ist mir wohl kein Fall unterkommen, der so sonderbar gewesen wäre wie der Fall des entwendeten Wunschzettels. Es ist mir auch kein anderer Fall untergekommen, der Schofel vergleichbar milde gestimmt hätte.
Immerhin verdankte Schofel den Namen, bei dem wir ihn riefen, einer gewissen Schofeligkeit, will sagen: der gelegentlich etwas ruppig wirkenden Unbestechlichkeit seines messerscharfen Verstands. Weder nahm Schofel in all den Jahren Rücksicht auf unglückliche Umstände noch ließ er sonst Gnade walten, indem er einen überführten Täter davon kommen ließ. Das Rätsel des hinkenden Turnschuhdiebs (traurige Folge einer traumatischen Turnstunde) hat er mit derselben Entschlossenheit gelöst wie das Geheimnis der Pusteln (die Langzeiterkrankung der Fachleiterin Ramona M., angeblich eine allergische Reaktion auf Sechstklässler, erwies sich am Ende als vorgetäuscht). All diese Fälle habe ich gewissenhaft und mit einigem Erfolg beim Publikum aufgezeichnet, freilich ohne je die gebotene Anerkennung von offizieller Seite zu erfahren. (In Deutsch stand ich durchgängig 3–.)
An diesem letzten Schultag des Jahres 20 – rechnete ich begreiflicherweise nicht mehr mit drängenden Aufgaben. Wir waren, als Schofel und ich in der zweiten großen Pause bei den Schließfächern Stellung bezogen, nur noch zwei Schulstunden von den Weihnachtsferien entfernt, und sogar Schofel wirkte entspannt. Er hatte die Beine übereinandergeschlagen, die Ohrenklappen seiner Fellmütze hochgebunden, kaute auf einem Bleistift und beobachtete unsere Mitschüler, wie sie über den nassen Linoleum-Fußboden auf ihre Schließfächer zu schlitterten.

Schneematsch und glatte Sohlen

Früh am Morgen hatte es zu schneien begonnen und mittlerweile hatten fünfhundert Paar Winterschuhe die schmutzige Pampe vom Schulhof in sämtlichen Fluren und Klassenzimmern verteilt, ohne dass Herr Nik, wie wir ihn nannten, dazu gekommen wäre, aufzuwischen. Stattdessen war der Hausmeister ausgerechnet am letzten Tag vor den Ferien damit beschäftigt, die Leuchtstoffröhren in den Klassenzimmern zu überprüfen.
Gleich nach Ende der zweiten Stunde war ich Zeuge gewesen, wie Justin Zillow aus der 4b auf dem hereingetragenen Schneematsch ausgerutscht und mit einem hohlen Klonk gegen das äußerste Ende der Aluminiumleiter geprallt war, die Herr Nik durch das Schulgebäude trug. Freilich war Justin leidenschaftlicher Hausschuhträger; an seinen glatten Sohlen war er, so sah ich das, selber schuld.
Schofel Olms trug zu seinem langen, großkarierten Wollmantel knöchelhohe Wanderschuhe mit einem soliden Profil und hinter unserem Tisch bei den Schließfächern machte ich mir im Geiste eine Notiz, meinem an diesem Morgen allzu spät verfassten Wunschzettel noch mein Verlangen nach einem ähnlichen Modell hinzuzufügen. Meine Eltern würden den Wunschzettel ja doch nicht vor dem späten Abend finden. Bis dahin war reichlich Zeit für Ergänzungen, blieb für etwaige Besuche im Einkaufszentrum danach auch nur der Vormittag des Heiligen Abends. Hinter unserem Tisch bei den Schließfächern machte ich mir im Geiste also noch eine zweite Notiz: Nächstes Jahr Weihnachten, nahm ich mir vor, wollte ich schneller mit meinem Wunschzettel sein. Schofel Olms hatte seinen gewiss schon vor Wochen vollendet und an der richtigen Stelle eingereicht.
Derart in Gedanken hatte ich gar nicht bemerkt, dass zwischenzeitlich eine Klientin an unseren Tisch getreten war. Ich erkannte sie als Viertklässlerin, nur ihr Name war mir leider entfallen. "Friederike", sagte Schofel Olms und nahm den Bleistift aus dem Mund. "Womit kann ich dienen?"

Wunschzettel: "Jemand hat ihn geklaut!"

Ganz offensichtlich war Friederike außer sich, und ich nutzte die Zeit, die sie brauchte, sich zu sammeln, um meine Ermittler-Miene aufzusetzen. Schofel Olms’ Adlerblick ist angeboren, meiner ist, zugegeben, erlernt.
"Mein Wunschzettel!", stieß Friederike nun hervor und musste vor lauter Empörung gleich wieder tief Luft holen. "Jemand hat ihn geklaut!"
Ich war drauf und dran, ihr den Rat zu geben, der Einfachheit halber schnell einen neuen zu schreiben – schließlich drängte die Zeit. Doch ich kam nicht zu Wort und hätte mir wohl auch nur einen strengen Blick von Schofel eingehandelt, der, wo es um Recht und Unrecht ging, kein Freund allzu einfacher Lösungen war.
"Wann hast du ihn zuletzt gesehen?", fragte Schofel Olms fachmännisch. Natürlich sprach er von Friederikes Wunschzettel.
"In Naturkunde", sagte Friederike, immer noch atemlos. "Da hab ich ihn ja geschrieben!"
Schofel Olms sah großzügig davon ab, Friederike zu tadeln. Kein Wort über ihre mangelnde Aufmerksamkeit im Naturkundeunterricht und (zu meiner großen Erleichterung) auch keines über ihre offenkundige Säumigkeit beim Verfassen von Wunschzetteln. "Und danach bist du in die erste große Pause gegangen", sagte Schofel Olms stattdessen. Er hatte die Stundenpläne sämtlicher Klassen memoriert.
"Genau", sagte Friederike, ohne Schofel Olms’ phänomenale Gedächtnisleistung zu würdigen.
"Ihr hattet heute Vertretung bei Frau Sibelius. Hat sie den Klassenraum hinter euch abgeschlossen?" Schofel Olms, sollte ich hinzufügen, memorierte allmorgendlich den Vertretungsplan.
"Ja", sagte Friederike.
"Dann", kombinierte Schofel Olms, "ist dein Wunschzettel aus einem geschlossenen Raum entwendet worden. Und das im dritten Stock." Unnötig zu erwähnen, dass Schofel Olms auch den Belegungsplan im Kopf hat.
"Ja und?", sagte Friederike.
"Sonderbar", sagte Schofel Olms. "Haben wir Friederikes Nummer?" Er reichte mir sein Handy und ich scrollte gewissenhaft durch die Kontakte: E … F … Francis … Frieder … Friederike!
"Haben wir", sagte ich.
"Wir melden uns. Heute noch", sagte Schofel Olms zu Friederike und steckte sich wieder den Bleistift in den Mund.

*

Die Schule ging mit einer Stunde Lebenskunde zu Ende, in der wir wichtelten. Schofel Olms bekam einen Zauberwürfel geschenkt, an dem ich ihn lustlos herumdrehen sah, als ich ihn nach Unterrichtsschluss auf der Bank am Bolzplatz wiederfand. Normalerweise ist es Schofel Olms ein Leichtes, einen Zauberwürfel in unter zwanzig Zügen in die Grundstellung zu bringen, aber an diesem Wintertag schien er nicht recht bei der Sache. Er sah nachdenklich zur Schule hinüber. In vielen Fenstern brannte noch Licht.
Jemand dreht an einem Zauberwürfel
Normalerweise ist es Schofel Olms ein Leichtes, einen Zauberwürfel in unter 20 Zügen in die Grundstellung zu bringen.© picture alliance / dpa / Patrick Seeger
Die Tartanbahn war mittlerweile schneebedeckt, und Schnee säumte auch die Gitter des hohen grünen Zauns, der den Bolzplatz zu einem Käfig machte. Auf der Straße fuhren Räumfahrzeuge, ihre apfelsinenfarbenes Blinklicht strich wieder und wieder über den Bolzplatz. Nur Herr Nik hatte offenbar Besseres zu tun, als Schnee zu schaufeln. Der Weg aus dem Schultor war mittlerweile eine Eisbahn, über die unsere Mitschüler in die Weihnachtsferien rutschten. Justin Zillow aus der 4b, mittlerweile in festerem Schuhwerk unterwegs, warf mit Schneebällen. Unsere Klientin Friederike, die unmittelbar hinter ihm ging, warf zweifelnde Blicke auf Schofel Olms.
Ich hatte gelernt, ihn nicht zu drängen. Schofel Olms setzte sogar mich nur selten über Zwischenstände seiner Ermittlungen in Kenntnis. Andererseits verspürte ich eine gewisse Ungeduld, um nicht zu sagen: Sorge. An einem Zauberwürfel zu schrauben, schien mir zu diesem späten Zeitpunkt nicht zielführend. Zudem hätte ich mir gern erste Notizen über diesen Fall gemacht, den ich für mich bereits Der entwendete Wunschzettel nannte.
Einige Hinweise aus dem Mund von Schofel Olms wären mir sehr willkommen gewesen. Und schließlich hatte ich auch noch meinen eigenen Wunschzettel im Sinn. Ich hatte ihn ja noch um ein eben solches Paar fester Wanderschuhe zu ergänzen, wie Schofel Olms sie gerade an seinen erschütternd untätigen Füßen trug. Ich sah Herrn Nik mit seiner Leiter und Frau Sibelius mit einem weihnachtlichen Gesteck aus dem Haupteingang treten. Ich sah draußen an der Straße den Bus vorfahren und Justin Zillow nach einem letzten Schneeballwurf rotgesichtig einsteigen. Ich blies mir in die kalten Hände und rammte sie in die Manteltaschen.

Warten auf Weihnachten

"Was gedenkst du nun zu tun, Schofel?", fragte ich schließlich so nebenbei wie möglich.
Schofel Olms hatte die weiße Seite seines Zauberwürfels vollendet, ohne auch nur hinzusehen. "Einstweilen nichts, mein Lieber", sagte er. "Jetzt einzugreifen, könnte sich als äußerst nachteilig erweisen." Er legte den Zauberwürfel zur Seite, fingerte seinen Bleistift aus der Manteltasche und steckte ihn sich in den Mund. "Im Augenblick", sagte er dann ein wenig undeutlich, "können wir nur warten."
"Aber worauf?", platzte ich heraus. Ich konnte meine Ungeduld kaum noch verbergen.
"Auf Weihnachten, mein Lieber", sagte Schofel Olms mit einem kleinen Lächeln. "Das machen doch gerade alle."
Unnötig zu sagen, dass ich kein Wort verstand. Zugleich aber wollte ich meine Ahnungslosigkeit nicht auch noch preisgeben, indem ich im Zweifel dumme Fragen stellte. Konnte es sein, dass Schofel Olms die Lösung unseres weihnachtlichen Falls schon kannte? Die Ruhe, die er ausstrahlte, deutete daraufhin. Unseligerweise machte mich das selbst nicht ruhiger. Der Schulhof war jetzt völlig verwaist. Der Schnee fiel in dicken, nassen Flocken. Schofel Olms trug mittlerweile weiße Schulterklappen.
"Hör mal, Schofel", fing ich an. "Ich hätte da noch was zu erledigen …" Derartige Geständnisse fielen mir mitten in einem Fall immer schwer. Ich wusste nie recht, wann Schofel Olms mich brauchte und wann nicht.
"Oh, tu dir keinen Zwang an", sagte Schofel Olms. Er hatte wieder den Zauberwürfel zur Hand genommen und arbeitete jetzt offenbar an der roten Seite. "Ich komme zurecht."
"So?", sagte ich, ein wenig gekränkt.
"Aber ja." Schon war auch die rote Seite des Zauberwürfels fertig. "Solltest du neugierig sein, wie die Sache ausgeht", sagte Schofel Olms, "dann komm wieder, wenn es dunkel wird."

*

So eilte ich also nach Hause, teils meinen eigenen, zu vollendenden Wunschzettel im Sinn und teils den entwendeten von Friederike. Es war mir nach wie vor schleierhaft, wie Schofel Olms ihn wiederfinden wollte, indem er auf einer Bank am Bolzplatz saß. Schnee knirschte unter meinem unzureichenden Schuhwerk. Ungeduldige Autofahrer standen in den schmalen Straßen um Parkplätze an, während jene, die diese Parkplätze aufgaben, erst ihre Scheiben freikratzen mussten.
Mein Mantel war ordentlich durchnässt, als ich endlich unsere Wohnung in der Bäckerstraße erreichte, wo Schofel Olms und ich schon manchen langen Nachmittag über einem Fall gebrütet hatten. Ich schloss die Haustür auf, erklomm die wenigen Stufen, öffnete die Wohnungstür, doch statt der gewohnt warmen, gelegentlich stickigen Luft schlug mir ein kalter Hauch entgegen. Nanu? Hatte ich etwa vergessen, ein Fenster zu schließen?
Ich stürzte in die Küche und in der Tat: Nicht nur stand das Fenster sperrweit offen, es hing auch schief in den Angeln. Es hatte auf Kippe gestanden und jemand hatte es aufgehebelt! Einbrecher, schoss es mir gleich durch den Kopf! Mit wehendem Mantel eilte ich ins Wohnzimmer – um es gänzlich unberührt vorzufinden. Fernseher, Stereoanlage, der Laptop – alles da. Keine herausgerissenen Schubladen. Keine geöffneten Schränke. Alles war an seinem Platz, was die Sache nur umso mysteriöser machte. Schon fingerte ich in meiner Manteltasche nach dem Mobiltelefon, dann besann ich mich eines Besseren und kehrte in die Küche zurück. Etwas, sagte mir mein durch die Freundschaft zu Schofel Olms geschulter Verstand, war anders gewesen als zum Zeitpunkt meines Aufbruchs am frühen Morgen.

Verwirrend viele Fußspuren

Der Wunschzettel fehlte! Dort auf dem Küchentisch hatte ich ihn zurückgelassen, ich erinnerte mich genau. War er weggeweht worden? Ich fand ihn nirgends, nicht auf dem Küchenfußboden und auch nicht unter dem Küchentisch. Ich beugte mich aus dem offenen Fenster, teils hielt ich nach dem verschwundenen Wunschzettel Ausschau, teils suchte ich bereits nach Spuren. Schließlich schneite es schon seit geraumer Zeit. Womöglich hatte der Dieb seine Fußspuren hinterlassen, als er in den Hinterhof eingedrungen war. Doch zu meinem Leidwesen gab es verwirrend viele Fußspuren im Hinterhof, mehr als ich hätte ausdeuten können. Freilich gaben mir die Abdrücke unmittelbar unter dem Küchenfenster noch ein viel größeres Rätsel auf. Sie waren länglich und eckig und glatt, auffällig tief in den Neuschnee geprägt und, wie mir schien, auf keinen Fall menschlichen Ursprungs!
Verschiedene Fußabdrücke im Schnee
Fußabdrücke im verschneiten Hinterhof© picture alliance / dpa / Winfried Rothermel
Bei diesem Gedanken gab ich sogleich alle Zurückhaltung auf. Ich holte mein Telefon hervor und drückte mit zitterndem Finger Schofel Olms’ Namen. Es tutete zwei lange Male, dann hob er ab.
"Schofel Olms. Womit kann ich dienen?"
"Lass den Unsinn, Schofel!", herrschte ich ihn an. "Mein Wunschzettel ist auch gestohlen! Vom Küchentisch!" Ich war nun ganz außer mir.
"Sag nur!", sagte Schofel Olms etwas verwaschen. Ich hörte ihm förmlich auf seinem Bleistift kauen. Im Hintergrund fuhren Autos. Wie es schien, harrte er immer noch auf der Bank am Bolzplatz aus.
"Durchs Fenster! Der Dieb ist durchs Küchenfenster eingestiegen!", stieß ich hervor.
"So, so", sagte Schofel, mit den Räumlichkeiten selbstredend bestens vertraut. "Ich nehme an, du hast im Schnee vor dem Fenster bereits nach Spuren gesucht?"
"Aber das ist es ja eben, Schofel!" Ich sprach viel zu laut. "Die Spuren vorm Fenster sind außerordentlich merkwürdig!"
Ich wollte gerade zu ihrer ausführlichen Beschreibung ansetzen, da fiel Schofel Olms mir schon ins Wort. "Sind sie womöglich glatt, rechteckig und auffällig tief eingeprägt?"
Mir blieb die Spucke weg! "Woher weißt du das, Schofel?"
Aber das war nicht die Art Frage, auf die man von Schofel Olms Antwort bekam. "Ich schlage vor", sagte er stattdessen, "dass du dich, um das Rätsel zu lösen, wieder zu mir auf den Bolzplatz begibst." Und damit war das Gespräch beendet.

*

Es dämmerte schon, als ich in größter Eile die Wohnung verließ. Es war mehr oder weniger stockdunkel, als ich den Schulhof erreichte. Im schwachen Licht einer der Laternen an der Straße lehnte Schofel Olms vor dem Bolzplatz am Gitterzaun. Er begrüßte mich mit einem fadendünnen Lächeln.
"Du kommst gerade rechtzeitig, mein Lieber", sagte er und wies auf das dunkle Schulgebäude. Allein in den Kellerfenstern neben dem Haupteingang brannte noch Licht.
"Schofel!", entfuhr es mir. "Mir ist vollkommen schleiferhaft, wie du hier meinen Wunschzettel finden willst. Gar nicht zu reden von dem von Friederike!"
Aber natürlich hatte auch ich mich auf dem Weg an einer Lösung des Falls versucht. Und tatsächlich hatte ich, während ich durch die von allerlei Weihnachtsbeleuchtung erhellten Straßen geeilt war, eine ganz brauchbare Theorie entwickelt. "Aber ich nehme an", fügte ich deshalb hinzu, "dass wir ein und demselben Wunschzettel-Dieb jagen, stimmt’s?"
"Stimmt, mein Lieber", sagte Schofel, stieß sich leicht vom Gitterzaun ab und trat sich den Schnee von den Wanderschuhen.
"Aha", sagte ich, glücklich in meiner Theorie bestätigt. "Und ich gehe auch recht in der Annahme, dass Justin Zillow und die arme Friederike beide in die 4b gehen?"
"Auch damit liegst du richtig", sagte Schofel Olms. "Ich bin beeindruckt, dass du den Namen Justin Zillow erwähnst."
"Tja, Schofel", sagte ich jetzt beinahe selbstgefällig. "Um es offen zu sagen: Ich halte ihn sogar für den Täter!"
"Wieso?", sagte Schofel Olms.

Ein glänzender Beobachter

"Nun", sagte ich. "Erstens habe ich ihn unmittelbar vor der ersten großen Pause noch in Hausschuhen vor dem Klassenzimmer der 4b gesehen, sodass er Gelegenheit gehabt hätte, sich dort von Frau Sibelius unbemerkt einschließen zu lassen. Und zweitens hat er den Bus genommen, sodass er ohne weiteres vor mir in der Bäckerstraße sein konnte." Stolz strahlte ich Schofel Olms an. Einmal mehr hatte ich mich als glänzender Beobachter erwiesen. Ich hatte die Details memoriert und dann kombiniert.
"Was um Himmels willen", sagte Schofel Olms, "sollte Justin Zillow mit deinem Wunschzettel anfangen?"
"Hm", machte ich ratlos.
"Oder mit dem von Friederike", sagte Schofel Olms.
"Hm", machte ich noch einmal, genauso ratlos.
"Und wie passen die sonderbaren Abdrücke vor deinem Küchenfenster dazu?"
"Stimmt", sagte ich. "Das habe ich nicht bedacht." Ich stopfte die Hände in die Manteltaschen und zog die Schultern hoch. Zwar waren die Abdrücke glatt, aber von Justin Zillows Pantoffeln konnten sie nicht stammen. Ich hatte ihn zuletzt in festerem Schuhwerk gesehen.
"Komm, mein Freund", sagte Schofel Olms, bevor ich mich weiter in unnütze Überlegungen verstricken konnte. "Wir haben einen Ortstermin." Der Schnee knirschte schon unter seinen dicken Sohlen. Schofel Olms ging auf das Schulgebäude zu.

*

Zu meiner Überraschung war die schwere Schultür nicht verschlossen. Es hatte auch noch niemand im Foyer sauber gemacht. Stattdessen lehnte vor dem Eingang zum Keller die Aluminiumleiter von Herrn Nik.
"Also", sagte ich, auch um den leichten Grusel zu überspielen, der mich in der leeren, dunklen Schule überfiel, "die Leiter hätte er ja wenigstens noch wegräumen können!"
"Vielleicht hat er ja noch ein paar Leuchtstoffröhren überprüft", sagte Schofel Olms mit einem Grinsen und öffnete leise die Kellertür. Der Treppenschacht war hell erleuchtet. "Wobei", flüsterte Schofel Olms auf dem Weg nach unten, "mein Verdacht eher in eine andere Richtung geht."
"Was willst du damit sagen?", zischte ich. Ich folgte ihm nur unwillig in den Keller. Für seine üblichen Andeutungen war ich einfach zu nervös.
"Nun, hast du dir schon mal überlegt, was für Spuren so eine Leiter hinterlässt, wenn man sie im Schnee aufstellt?"
"Schofel!", entfuhr es mir eine Spur zu laut.
"Womöglich sind diese Spuren länglich und rechteckig, nicht wahr?" Schofel Olms hatte den Fuß der Kellertreppe erreicht. Trockene Heizungskellerluft schlug uns entgegen, eine Mischung aus altem Kram und Staub und Öl.
"Willst du etwa sagen, dass Herr Nik …" Ich flüsterte, aber Schofel Olms legte dennoch einen Finger an die Lippen.
"Ich will sagen", flüsterte er dann so leise, dass ich die Ohren spitzen musste, "dass sich Herr Nik zu Beginn der großen Pause vor dem Klassenzimmer der 4b aufgehalten hat – genauso wie Justin Zillow, der sich, wie du dich ja erinnerst, an eben an jener dort oben abgestellter Leiter gestoßen hat. Außerdem will ich sagen, dass Herr Nik anders als Justin Zillow einen Generalschlüssel hat und ohne weiteres in der ersten großen Pause den Klassenraum der 4b betreten konnte. Offiziell, um die Leuchtstoffröhren zu überprüfen. Inoffiziell, um Friederikes Wunschzettel an sich zu nehmen."

"Was will Herr Nik mit Friederikes Wunschzettel?"

"An sich zu nehmen?", raunte ich empört. "Du willst wohl sagen stehlen!"
"Ich will sagen, was ich sage", murmelte Schofel Olms und gebot mir mit einer Geste anzuhalten. Wir hatten eine nur angelehnte Tür erreicht. Im Raum dahinter brannte Licht. Durch den Türspalt konnte ich eine Werkbank sehen. Dann hörte ich Schritte, die sich entfernten.
"Und warum?", flüsterte ich, weil ich nicht an mich halten konnte. "Was will Herr Nik mit Friederikes Wunschzettel? Und was will er mit meinem?" Immerhin war mir mittlerweile klar, dass Herr Nik nicht nur in das Klassenzimmer der 4b, sondern gleich nach Schulschluss auch noch in unsere Küche eingedrungen war! Ich konnte mich sogar erinnern, gesehen zu haben, wie er das Schulgebäude mit seiner Leiter verließ!
Schofel Olms beugte sich vor, öffnete die Tür etwas weiter und steckte vorsichtig den Kopf in den Raum mit der Werkbank. Die Luft schien für den Moment rein zu sein. Jedenfalls schien sich Schofel Olms zu entspannen.
"Die Frage ist doch", flüsterte er mir zu, "was Friederikes und dein Wunschzettel gemein haben."
Ich ging fest davon aus, dass Friederikes und meine Weihnachtswünsche gar nichts gemein hatten und entsprechend entgeistert sah ich wohl auch aus.
Schofel Olms grinste. "Nun, mein Lieber. Ihr wart beide spät dran mit euren Wunschzetteln. Während ich meinen vor Wochen abgeschlossen habe, habt ihr beide noch heute daran gewerkelt."
"So?", flüsterte ich. "Nun ja, das stimmt schon, aber …"

Eile und Termindruck

"Hör zu", unterbrach mich Schofel Olms flüsternd und rückte sich die Fellmütze zurecht. "Im Grunde ist es Mathematik. Die Zeit, die du dir mehr nimmst, fehlt jemand anderem. Und irgendwann muss dieser jemand sich furchtbar beeilen. Termindruck. Du verstehst?"
Nein, ich verstand keineswegs, aber es blieib keine Zeit für weitere Nachfragen, denn Schofel Olms schlüpfte auf einmal in den von uns flüsternd belagerten Raum mit der Werkbank. Er schlich auf Zehenspitzen und ich tat es ihm nach. Im Raum nebenan hörte ich wieder Schritte. Ich hielt den Atem an. Bestimmt war das Herr Nik!
Schofel Olms war in der Zwischenzeit an ein altes Pult getreten, das gleich neben der Werkbank stand. Darauf lag ein ganzer Berg Zettel, den er knisternd durchstöberte.
"Ah, hier!" Er warf einen sichernden Blick in den Raum nebenan, wo Herr Nik – wenn es Herr Nik war – rumorte. Dann winkte er mich herbei. "Na, was ist das?"
Er hielt mir das Blatt hin. Es war mein Wunschzettel!
"Und das hier!", flüsterte Schofel Olms.
Es war der Wunschzettel von Friederike!
"Nicht!" Ich hatte meinen Wunschzettel gerade in die Manteltasche stecken wollen, als Schofel Olms mir in den Arm fiel. "Er kommt! Wir müssen uns verstecken!" Er zog mich hinter die Werkbank. Wir hatten uns gerade hingekauert, als Herr Nik in schweren Stiefeln an das alte Pult trat. Warmes Licht fiel auf seinen buschigen, weißen Bart.

Ein Schlitten auf dem Lehrerparkplatz

"So, da hab ich sie alle beisammen", hörten wir ihn murmeln. Er raffte die Wunschzettel zusammen und machte auf dem Absatz kehrt. Wieder schwere Stiefelschritte, die nach und nach verklangen.
"Komm mit!" Schofel Olms zog mich hinter der Werkbank hervor. Ich war, ich muss es gestehen, furchtbar durcheinander. Was ging hier vor? Und wieso hatte Schofel Olms die Wunschzettel nicht an sich genommen, als noch Gelegenheit dazu war?
Er zog mich in den Nebenraum. Er hatte es jetzt eilig. Ich stolperte ihm hinterher, auf eine Tür und dann eine kurze Hintertreppe zu, die uns zurück nach draußen führte. Wir traten ins helle Licht der Sterne über dem Lehrerparkplatz, wo die Fachleiterin Ramona M. sonst ihren kleinen roten Flitzer parkte.
"Aber … aber … um Himmels willen!", entfuhr es mir, denn auf dem Parkplatz stand statt Ramona M.s Flitzer ein wartender Schlitten. Ein Dutzend Rentiere waren angespannt und Herr Nik ging stracks auf die wartenden Tiere zu, wobei er sich in aller Eile den Hausmeisterkittel vom Leib riss und ein mit weißem Pelz besetztes leuchtend rotes Gewand zum Vorschein brachte.
"Aber das ist doch …"
"Weihnachten", sagte Schofel Olms und legte den Kopf in den Nacken, als der Rentierschlitten mit Herrn Nik auf dem Bok in den Sternenhimmel aufstieg. "Ich habe mir ein Detektivset gewünscht", sagte Schofel Olms, den Blick immer noch nach oben gerichtet, wo der Schlitten im Mondlicht kleiner wurde. "Und du?"
"Dies und das", sagte ich. "Und nächstes Jahr wünsche ich mir Wanderschuhe."